Möwenflug – Leseprobe

Vom Fliegen

Anton flog wieder schlafend. Kasimir machte sich Sorgen um ihn. Nicht, weil seine Möwe gleichzeitig schlief und flog. Genau genommen war Anton auch nicht seine Möwe. Ein Donnerling konnte keine Möwe besitzen. Ein Donnerling konnte höchstens auf einer Möwe fliegen, aber meistens nur, wenn sie sich überzeugen liess, dass es sich auch wirklich um einen Notfall handelte. Ein Notfall war zum Beispiel, wenn ein Donnerling mit seiner Surfbohne abgetrieben war, oder wenn sich einer im grossen Moor verirrt hatte. Kein Notfall war zum Beispiel, wenn ein Donnerling auf einer Möwe einen geheimen Ausflug über den grossen See machte. Möwen machten keine geheimen Ausflüge, und schon gar nicht mit einem Donnerling auf ihrem Rücken. Ein normaler Donnerling war nämlich fast so gross wie eine Möwe und bei weitem nicht so federleicht, wie manche glaubten. Aber Anton war nicht wie die anderen Möwen, und Kasimir war nicht wie die anderen Donnerlinge. Anton war die größte Möwe, die Kasimir je gesehen hatte und Kasimir war einen ganzen Kopf kleiner als alle anderen seines Volkes. Und beide nahm es Wunder.

Am Anfang waren sie nur ein wenig der Küste entlang geflogen, hinter die Flussmündung, die das Volk der westlichen See-Donnerlinge vom Volk der südlichen See-Donnerlinge teilte. Dann wurden die Küstenflüge immer etwas weiter: bis zur Schilfstadt, bis zum Dorf der Menschen und bis zur grossen Fabrik, aus der es süss roch. Bis sie es eines Tages gewagt hatten und gemeinsam quer über den grossen See geflogen waren. Und auf eben diesem ersten Seeüberflug war Anton zum ersten Mal eingeschlafen auf dem Rückweg. Und von da an war es immer öfters vorgekommen. Die beiden waren immer weitergeflogen, an Orte, die keine Möwe je einen Donnerling getragen hatte.

Anton war immer rechtzeitig erwacht auf ihren verbotenen Ausflügen: ein paar Flügelschläge vor dem Schilf am Seeufer, in dem sich Kasimirs Dorf verbarg. Aber heute hatten sie sich so weit weg getraut wie noch nie und Anton war schon auf dem Hinflug einmal kurz eingenickt. Und im Moment machte Kasimir sich Sorgen, weil sich am Himmel über ihnen dicke schwarze Wolken zu einer Gewittersuppe zusammenbrauten.

Kasimir streichelte seinen Freund behutsam am Kopfgefieder, um ihn zu wecken. Anton schlief weiter. Als nächstes rüttelte Kasimir an Antons Flügeln, erst vorsichtig, dann ziemlich ruppig, und zum Schluss zwickte er die Möwe an allen möglichen Stellen. Anton schlief und flog weiter, während Kasimir den finsteren Himmel über sich anschaute und sich noch etwas mehr Sorgen machte.

Kasimir beschloss seinen wirkungsvollsten Weckversuch zu unternehmen. Der war aber extrem riskant: Kasimir musste dafür aufstehen, sich mit den Füssen auf Antons Flügelansätze stellen, sich weit über den Kopf der Möwe beugen und dann mit seiner Faust einmal fest auf Antons Schnabelspitze klopfen. Kasimir stand schon auf Antons Flügeln und holte zum Schnabelspitzenklopfen aus, da zuckte neben ihnen ein Blitz aus dem Himmel – ein Blitz, den Kasimir noch nie gesehen hatte: Er spritzte nicht aus dem Himmel herab und verzweigte sich auch nicht wie die Äste eines Baumes. Er sah aus wie eine Lichtkugel. Der Blitz war zudem unheimlich laut. Lauter als alle Blitze, die Kasimir und Anton je an sich vorbeiknistern gehörten hatten auf ihren verbotenen Ausflügen. Anton schreckte aus dem Schlaf und schüttelte Kasimir kreischend von sich ab.

Eine dritte Extrawurst hätte sich vielleicht doch gelohnt, dachte Kasimir bei sich, als er in die Tiefe fiel und seine eigenen Flügel auszubreiten versuchte. Aber das Rückengebinde seiner zu grossen Weste verhedderte sich wieder einmal mit seinen Flügeln. Was er Vater zu verdanken hatte. Und Mutter. Und dem Liederherrn, der ihn aus irgendeinem Grund einen geschlagenen Kopf kleiner geschaffen hatte. Seine Eltern mussten wohl das falsche Lied gesungen haben. Oder das Lied falsch gesungen haben.

Donnerlinge wurden nicht von ihren Eltern als Babys auf die Welt geboren. Donnerlinge erschienen, durch einen Gesang von Mutter und Vater an den Liederherrn. Donnerlinge starben auch nicht. Sie verschwanden, wenn es Zeit war und der Liederherr dann ihnen sein Lied sang.

Donnerlinge wuchsen auch nicht. Von ihrem Erscheinen an bis zu ihrem Verschwinden blieben alle genau gleich gross. Und zwar exakt gleich gross. Zwar wurden Donnerlinge dick und dünn, und sie hatten verschiedene Haut- und Haarfarben und Stimmen, aber Beine, Arme, Köpfe und Flügel waren immer auf den Millimeter genau gleich lang. Bei allen, bis auf Kasimir. Genau gleich gross zu sein hatte viele Vorteile. Für den Schneider, der nur eine Kleiderlänge zuzuschneiden brauchte, für die Schuhmacherin, die Schuhe in nur einer einzigen Schuhgrösse schusterte, für den Westenstricker, der immer gleich viele Maschen anschlagen konnte.

Kleiner zu sein bedeutete, dass die Schuhmacherin extra Schuhe fertigen musste und dass Kasimir ständig hochgekrempelte Ärmel hatte, was seine Schwester Aurora nervte, weil sie ihn so unordentlich nicht zu den Königskindern mitnehmen wollte. Kleiner zu sein bedeutete, dass sein Vater einem immer die Hosen kürzen musste und dass man ständig zu grosse Flügelwesten trug, weil der Westenstricker sich weigerte, ein paar Maschen weniger anzuschlagen. Kasimirs Vater und Mutter weigerten sich, stricken zu lernen. Kleinere Schuhe, Hemden und Hosen waren, wie der Vater mit wackelnden Spitzohren zu schimpfen pflegte, schon zwei Extrawürste zu viel für einen Donnerling, selbst einen zu klein geratenen.

Kleiner zu sein als alle anderen hatte aber auch seine Vorteile: Man konnte länger auf einer Möwe fliegen als alle anderen. Und jeder erkannte Kasimir schon von weitem. Jeder winkte ihm deshalb immer freundlich zu. Immer auch ein wenig aus Mitleid, aber Kasimir störte das nicht, solange der Rest der Freundlichkeit echt war. Denn Freundlichkeit gab ihm mehr als passende Kleider.

Kasimir schaute im freien Fall nach unten und versuchte noch einmal mit seinen Flügeln zu schlagen, die sich in seiner zu grossen Weste verheddert hatten. Seine Flügel und die Schnüre seiner Weste verstrickten sich immer mehr und Kasimir fiel immer schneller. Kasimir streckte seinen Hintern dem Himmel entgegen und spannte Arme, Beine aus wie ein Flughund, um seinen Fall möglichst zu bremsen. Vielleicht würde er den Sturz ja so überleben…

Vom Kochen

Sami schlug Seite hundertundsiebenundvierzig auf. Hörnliauflauf. Sami las sich die Zutatenliste laut vor, wie immer:

  • etwas Butter
  • zwei Zwiebeln
  • 150 Gramm Hörnli pro Person
  • 2dl Bouillon
  • 80 Gramm geriebener Käse, «am besten eine Mischung aus Gruyère und Sbrinz»

«Am besten eine Mischung aus Gruyère und Sbrinz» hatte Sami selber hingeschrieben. Einmal war einer älteren Frau in der Migros eine Käsemischung aus der Einkaufstasche gefallen. Sami hatte sich die Käsemischung geschnappt und hatte der Frau nachlaufen wollen, aber diese war schon im Lift zur Tiefgarage verschwunden und in der Tiefgarage hatte sie sie auch nicht mehr finden können. Also war damit nach Hause gegangen.

Zu Hause hatte Sami Seite hundertsiebenundvierzig aufgeschlagen und damit den bisher besten Hörnliauflauf ihres Lebens gekocht. Zwar ohne Zwiebeln und Bouillon und mit nur 100 Gramm Hörnli pro Person, aber mit Sbrinz und Gruyère. Sami lief das Wasser im Mund zusammen. Es war Zeit für Seite zweihundertdreizehn: Zürcher Tofugeschnetzeltes mit Rösti und Rosenkohl. Und für Seite dreiundneunzig: Rindsschulterbraten mit Bandnudeln und leicht gezuckertem Karottengemüse. Sami schloss die Augen und stellte sich vor, wie diese Dinge schmecken könnte. Sami hatte noch nie Geschnetzeltes gehabt, oder Braten. Eine Bratwurst ja, an einem Herbstfest in St. Gallen, und Poulet-Wienerli, die bekam sie jeden zweiten Samstagabend im Monat. Und gezuckerte Karotten kochte sie sich und ihrem Grossvater hin und wieder sonntags. Aber wie wohl Rosenkohl schmeckte? Ob er wirklich so hässlich schmeckte, wie Tobi und Sil behaupteten?

Sami setzte in einer kleinen Pfanne Wasser auf und öffnete den Vorratsschrank, wo sie sich den halben Pack Hörnli griff, der darin stand und die beiden Dosen Mais – das einzige, was sich sonst noch darin befand, stehen ließ. Sami kramte die Gratinform hinter der Salatschüssel hervor, stellte das Salz bereit und deckte den Tisch. Als das Wasser im Pfännchen kochte, kippte sie einen Viertel Teelöffel Salz hinein und schaute auf den Wandkalender, der neben dem Herd hing. Ein Tag noch. Ein Tag, bis Grossvater die Ergänzungsleistungen erhalten würde und sie wieder einkaufen konnte. Der halbe Pack Hörnli und die zwei Büchsen Mais waren alles, was sie bis dahin noch vorrätig hatten. Das würde gut reichen. Sami müsste dieses Mal nicht wieder zu Frau Sardi gehen müssen, oder sich dazu überwinden, im Laden zu stehlen oder zur Gratis-Essensausgabe für Bedürftige der Stadt zur schleichen. Sami kratzte sich am Hinterkopf. Zu Frau Sardi gehen, ein Dieb werden oder vor anderen zugeben, dass man nicht genug hatte. Sie wusste nicht, welches heutzutage die schlechtere Wahl war.

Frau Sardi war keine böse Frau. Sie war Sozialarbeiterin und meinte es nur gut. Ihr Herz glomm freundlich, zwar etwas gedämpft, aber konstant und hübsch silbern. Aber sie hatte seinem Grossvater gesagt, sie würden ihn ins Altenheim stecken, wenn er nicht mehr für Sami sorgen könne. Und als Sami einmal gegen Monatsende Frau Sardi aufgesucht und um etwas Essen gebeten hatte, da hatte sie ihn gefragt, ob sie nicht gerne an einem Ort leben würde, wo sie genug zu essen bekäme.

»Die Liebe meines Grossvaters nährt mich mehr«, hatte sie zu Frau Sardi gesagt, worauf diese sie lange angeschaut hatte, ohne ein Wort zu sagen. Sami hatte damals gelernt, dass ein Mensch noch nicht einmal Worte brauchte, um einem anderen Menschen weh zu tun.

»Ein Tag noch«, sagte Sami zu sich und schüttete zwei Handvoll Hörnli ins kochende Wasser. Den dreiviertelleeren Pack stellte sie wieder in den Vorratsschrank.

Vom Landen

Kopfüber lag Kasimir in der Dunkelheit und rümpfte seine Nase. Die Dunkelheit stank fürchterlich. Umständlich setzte er sich auf und fingerte sich ein klebriges Etwas aus seinem Haarwuschel. Kasimir zog seine viel zu grosse Flügelweste aus und versuchte seine Flügel auszuspannen, um aus diesem Loch zu fliegen. Aber ein klebriges Etwas hatte sich auch an seinen Fügeln festgeklebt.

Kasimir hatte schon davon gehört, dass sie stanken, die Menschen. Dass sie zwar auch badeten, und manchmal sogar Seife benutzten, und dass sie ihr Geschäft in so Dingern verrichteten, die alles mit Wasser wegspülten. Aber was man sich sonst noch über die Menschen erzählte, war also auch wahr: Sie warfen die Dinge, die sie nicht mehr brauchten, in dunkle Löcher, wo diese Dinge vor sich hin stanken, bis jemand sie aus den Löchern holte und in ein noch grösseres Loch warf, wo es noch mehr stank. Kasimir fragte sich, ob er in einem grösseren oder kleineren Loch gelandet war.

Griesgrämig setzte er sich wieder auf den dunklen Stinkhaufen, auf dem er gelandet war. Alleine würde er es nicht hier herausschaffen. Und schon gar nicht ohne Magie. Denn Kasimir war noch in einer anderen Beziehung ganz anders als alle anderen Donnerlinge: Er war nicht nur der kleinste, sondern auch der einzigste Donnerling, der keine Magie besass.

Alle anderen Donnerlinge waren voll von Magie: Sie konnten Dinge zum Schweben bringen, Geräusche nachahmen, sich vor den Menschen unsichtbar machen undsoweiter. Kasimir konnte nichts von alledem. Noch nicht einmal einen Marienkäferfurz nachpupsen. Seine Eltern hatten alles Mögliche mit ihm probiert und ihn sogar zur alten Tulla gebracht. Tulla war nicht nur die älteste aller Donnerlinge, sondern auch die Erfahrenste. Für so ziemlich jedes Magie-Leiden kannte sie eine Kur. Sie kannte Magie-Erinnerungsrituale für die älteren Donnerlinge, die mit der Zeit vergesslich wurden und manchmal sogar ganz vergassen, dass es Magie überhaupt gab. Und sie konnte den frisch Erschienen helfen, wenn sie ihre Kräfte noch nicht ganz unter Kontrolle hatten und sich ihre Haut violett statt grün zauberten oder statt eines Zaubergesangs eben einen Marienkäferfurz von sich gaben.

Man musste sich ein wenig anstrengen, um die alte Tulla zu besuchen. Sie wohnte weit weg im Branawat-Gebirge und dort wechselte sie alle paar Stunden sie ihren Aufenthaltsort. Manche Donnerlinge behaupteten, dass Tulla nicht verschwinden wollte und deshalb dauernd den Ort wechselte, damit der Liederherr sie nicht fand und ihr sein Lied nicht singen konnte. Kasimirs Eltern hatten also die Mühen auf sich genommen und sie gesucht und nach drei Tagen auch gefunden, damit sie für Kasimir ein Magie-Ritual fand. Aber die alte Tulla hatte ihn nur angeschaut und drei Sätze zu ihm gesagt: »Du wirst nie zaubern wie ein Donnerling, mein Junge. Deine Magie singt ein anderes Lied. Und was für eins!« Dann hatte sie ihren Beutel für den nächsten Ortswechsel gepackt. Kasimir spitzte seine Ohren. Hatte er gerade ein Hallo gehört? Er spitzte seine Ohren nochmal.

»Hallo!«, rief jemand von ausserhalb des dunklen Gestanks.

»Ja hallo, hier drin!«, rief Kasimir zurück.

»Elf oder Fliegflieg!«, rief jemand zurück.

»Fliegflieg?«, rief Kasimir zurück.

»Grau oder Braun!«, rief der Jemand zurück.

»Grau oder Braun?«, rief Kasimir.

»Ja was denn jetzt? Entscheide dich!«

»Grün, aber spielt doch keine Rolle, hilf mir lieber hier raus!«, rief Kasimir gereizt.

»Wie wäre es, wenn du versuchen würdest, hinauszufliegen!«, rief der Jemand ebenfalls gereizt.

»Kann nicht, die Flügel sind verklebt!«, rief Kasimir zurück. Er hörte einen Fuss gegen das Stinkloch stossen, dann einen Strauss Fluchwörter und Gemurmel, etwas von wegen »dämliches Fliegflieg« und »gierig«, und jetzt begann Kasimirs Loch zu schwanken.

»Sei so nett und hilf gefälligst mit!«, rief der Jemand. »Renn hin und her, damit er umfällt.«

»Wer ‘er?’«, rief Kasimir.

»Der Eimer, du Trottel!« Kasimir verstand die Antwort nicht ganz, rannte aber trotzdem so gut es ging hin und her, obwohl ihm immer mehr Stinkzeugs entgegenfiel, bis das schwarze Loch schliesslich so fest schwankte, dass es scheppernd umkippte und Kasimir aus dem Loch kullerte.

Kasimir wollte sich gerade aufräppeln, da packten ihn zwei Hände unter den Schultern und stellten ihn mit einem Ruck auf. Kasimir rieb sich die Augen. Nicht, weil sie verklebt waren. Vor ihm standen zwei Wesen, die er noch nicht gesehen hatte. Beide starrten ihn an: Das eine Wesen hatte zwar Donnerlingsohren, aber dazu eine seltsame, bleiche Hautfarbe, und es war mindestens einen Kopf kleiner als er. Das zweite Wesen war höchstens haselnussgross, pelzig, und genau genommen stand es nicht vor ihm, sondern es schwebte dicht vor seiner Nase.

»He, du bist ja doch ein Elf!,« sagte der kleine Jemand und runzelte die Stirn. »Aber du bist viel zu gross, und – grün!«

»Und das da ist ein Fliegflieg, nehme ich an«, antwortete Kasimir und zeigte auf das pelzige Tierchen vor seiner Nase, das seine Haare zu beschnuppern begann. Kasimir schüttelte sich, um die klebrigen Etwassens an seinen Flügeln loszuwerden.

»Dilby, hilf mal mit der Bananenschale«, sagte das bleiche Wesen mit den Donnerlingsohren, als es mit Starren fertig war. Kasimir getraute sich nicht, nachzufragen, was eine Bananenschale war.

Das Fliegflieg flog um Kasimir herum und rüttelte an seinen Flügeln, erstaunlich kräftig für so ein winziges Wesen, und als nächstes hörte Kasimir, wie es hinter ihm laut mampfte. Kasimir liess das Rütteln und Mampfen mit sich geschehen und schaute währenddessen um sich. Der Himmel über ihm war grau wie über dem See, aber es blitzte und regnete nicht mehr. Graue Wände so hoch wie die uralten Eichen im Donnerlichtswald schossen links und rechts aus dem Boden. Aber sie waren lange wie Felswände, und in den Wänden steckten riesige, viereckige Glasscheiben, die alle die gleiche Grösse hatten.

Der Boden war ebenfalls grau. Kasimir zog seine rechte Augenbraue hoch. Das machte er immer, wenn er einen hellen Gedanken hatte, oder einen dunklen. In diesem Fall konnte er sich noch nicht entscheiden, ob der Gedanke hell oder dunkel war. Die graue Schlucht, in der er gelandet war, war ihm unheimlich, und der Gedanke, der ihm gerade kam, war es ebenso: Anton hatte ihn verloren, und er Anton.

Kasimir streckte dem Bleichen mit den Spitzohren seine Hand entgegen.

»Kasimir Winzig, Danke für deine Hilfe«, sagte er.

»Felix Pfinder, habe die Ehre, aber das Händeschütteln verschieben wir besser«, brummelte dieser zurück und deutete auf Kasimirs Hand. Kasimir betrachtete seine Hand kurz.

»Tschuldigung, die ist ja ziemlich schwarz«, antwortete er. Das Mampfen hinter Kasimir hörte aprupt auf und Felix schaute ihn erschrocken an.

»Was ist denn?«, fragte Kasimir.

»Sag auf keinem Fall dieses Wort noch einmal!«, flüsterte Felix und schaute suchend um sich. Kasimir verstand wieder nicht ganz. Welches Wort sollte er nicht mehr sagen? Tschuldigung? Kasimir kratzte sich am Kopf und klaubte ein weiteres klebriges Dings aus seinen Haaren. Es betrachtete den Fetzen kurz und hielt es Felix entgegen.

»Die Farbe meinst du?«, sagte Kasimir. Felix nickte und Kasimir warf das schwarze Dings zu Boden.

»Tschuldigung, bin nicht von hier«, sagte Kasimir leise. Felix schaute ihn prüfend an.

»Komm mit!«, sagte er und fasste Kasimir mit zwei Fingern am Ärmel.

Von den Herzen

Sami nahm die Pfanne vom Herd, so schnell sie konnte, aber die Hörnlis kochten trotzdem über. Sami musste lachen. Sie konnte voraussehen, wann Herzen erloschen, aber sie konnte nicht voraussehen, ob Teigwaren überkochten. Sami nahm einen Löffel aus der Besteckschublade und fischte ein Hörnli aus dem Wasser, um es zu probieren. Als nächstes nahm sie ein Sieb, goss die Teigwaren ab und leerte sie zurück in die Pfanne.

»Essen!«, rief Sami aus der Küche und bereitete zwei Teller vor, die sie in die Stube mitnahm und auf dem kleinen Esstisch in der Ecke vor dem Fenster platzierte. Dann ging sie in das Zimmer des Grossvaters, der sich für sein Vormittagsnickerchen hingelegt hatte. Nach dem Essen würde er sich wieder hinlegen, für sein Frühnachmittagsnickerchen. Dazwischen würde er sich eine Stunde vor den Fernseher setzen, bevor er sich ans Vorabendnickerchen machte, um Kraft zu sammeln, um das Abendessen für Sami und ihn zuzubereiten. Dann würden sie gemeinsam Abendessen und noch eine Runde Yatzee spielen, ehe sich der Grossvater für die Nacht schlafen legen würde. Als Sami ins Zimmer kam, sass ihr Grossvater schon auf dem Bett und kämmte sich das Haar. Sie half ihm behutsam auf und begleitete ihn zum Tisch.

»Wie viele Tage noch?«, sagte ihr Grossvater, als er seinen Löffel griff.

»Einer«, antwortete Sami.

»Zum Abendessen mache ich heute wohl Maissalat«, sagte Grossvater und setzte sein Scherzgesicht auf. Sami schaute auf das Herz ihres Grossvaters. Es flackerte ein ganz wenig auf, strahlte dann aber wieder konstant hell. Sami hatte nämlich eine Superpower: Sie konnte Herzen sehen. Die einen strahlten hell, andere glommen nur. Einige flackerten wie Kerzen im Durchzug, andere leuchten konstant wie eine Glühlampe. Meist leuchtete ein Herz in einer Farbe. Rot, orange, sonnengelb, grün, silbern oder blau. Die einen Herzen leuchten schwach, andere intensiv. Ob Sami wirklich «sah», wie das Herz leuchtete, wusste sie nicht ganz. Sie sah nicht eine Form im Bereich in der Mitte der Brust eines Menschen. Und sie sah schon gar nicht eine dieser Emoji-Herzen. Sami sah einen Menschen an und während sie seinen Brustbereich ansah, entstand in ihrem Kopf dieser leuchtende Bereich. Oder eben dieser nicht leuchtende Bereich. Seit einiger Zeit konnte Sami sogar sehen, wenn ein Herz bald erlöschen würde.

Sami schaute ihren Grossvater an. Sami liebte das Herzleuchten ihres Grossvaters. Hoffentlich würde es nicht erlöschen, bevor es mit seinem Leben zu Ende war. Sami griff sich ihren Löffel und ass ganz langsam von den Teigwaren. So machten sie mehr satt. In letzter Zeit hat eine beunruhigende Veränderung stattgefunden. Sami hatte gleich in kürzester Zeit zugesehen, wie mehrere Herzen erloschen waren. Dass das eine oder Herz erlosch und ein Mensch sein Leben «dunkel» weiterführte, war normal. Das hatte Sami von ihrem Grossvater gelernt. Meistens geschah es bei älteren Erwachsenen, die nicht gelernt hatten (oder nicht lernen wollten), wie man das Feuer in seinem Herz am Brennen hielt und die zu viele Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt hatten, die zu fest auf ihr Herz drückten. Bei Herrn Brunner hatte Sami zum ersten Mal gesehen, wie ein Herz erlosch. Zum Glück war ihr Grossvater dabei gewesen und hatte es ihr erklärt. Herr Brunner war Geschäftsmann, hatte zwei Töchter und eine Frau, ein Haus, zwei grosse Autos, einen Swimmingpool im Garten, eine eigene Firma und sicher jeden Tag genug zu essen auf dem Tisch. Herr Brunner war gerade mit seiner Familie von den Ferien zurückgekommen, als es passiert war. Sami und ihr Grossvater waren auf einem Spaziergang zum Waldrand an seiner Villa vorbeigegangen und hatten ihm zugesehen, wie er den Briefkasten geöffnet und sich einen Brief herausgefischt hatte. Seine Frau und die Kinder waren mit Auto ausladen beschäftigt gewesen.

»Sein Herz flackert so fest«, hatte Sami ihrem Grossvater damals zugeflüstert.

»Er hat wohl grosse Sorgen«, hatte ihr Grossvater zurückgeflüstert und die ganze Familie nett gegrüsst. Die Frau hatte höflich zurückgegrüsst und die Kinder hatten etwas gebrummelt, Herr Brunner hatte nicht einmal aufgesehen, sondern regungslos auf den Brief gestarrt, den er aus dem Postkasten geholt hatte. Und während er auf den Brief gestarrt hatte, hatte Sami gesehen, wie sein Herz noch dreimal heftig aufgeflackert hatte und im nächsten Moment erloschen war. Starr vor Schreck war Sami stehen geblieben. Dann hatte ihr Grossvater sie sanft an der Hand genommen und ihr auf dem Weg zum Wald erklärt, was soeben passiert war.

Sami löffelte ihre Hörnlis langsam weiter und schaute ihren Grossvater an, der ebenfalls langsam löffelte und sie anlächelte. Sami lächelte zurück. Sie hatte ihre Superpower von ihrem Grossvater geerbt.

Grossvater war im Appenzell aufgewachsen, bei einer Familie, die manchmal sogar eine mehrere Tage nichts zu essen gehabt hatte. Der Vater war Strassenputzer gewesen, nicht sehr hell, wie Grossvater Sami erklärt hatte, aber fleissig und treu. Grossvaters Mutter hatte dieses grosse Herz gehabt und war sehr gescheit gewesen. Sie hatte ihre vier Kinder alles gelehrt, was sie wusste und lernen konnte in ihrem kurzen Leben. Leider hatten die Frauen zu Grossvaters Zeiten wenig Möglichkeiten, sich zu bilden. Und leider war Grossvaters Mutter viel zu früh gestorben. Danach waren die vier Kinder auf sich allein gestellt gewesen. Sie hatten zusammen für sich und den Vater gekocht, oder eben nicht gekocht, wenn es nichts gab.

Mit Dreizehn hatte Grossvater die Schule abgebrochen, um bei einem Gärtner Geld zu verdienen. Dann war er selbst Gärtner geworden. Der beste Job in der Welt, wie Grossvater fand. In der Welt der Pflanzen zu arbeiten. Leider waren angestellte Gärtner noch heute schlecht bezahlt. Und wenn man älter wurde, konnte man die harte Körperarbeit nicht mehr so lange machen und man musste im Stundenlohn arbeiten. Von dem her waren die Ergänzungsleistungen, die Grossvater seit seiner Pensionierung vom Staat bekam, ein Segen. Aber sie reichten manchmal auch nicht ganz für zwei, obwohl Grossvater auch noch Kinderzulagen bekam. Ein Kind in der heutigen Zeit benötigte so viele Dinge, damit es nicht auffiel und zur Zielscheibe des Spotts der anderen Kinder wurde:

  • Kleider für den Alltag, Sportsachen, Kleider fürs Klassenlager und die Disco am Schulsilvesterball
  • ein Handy für die elektronischen Hausaufgaben und damit man mit den anderen Schülern im Klassenchat kommunizieren konnte
  • ein Velo oder mindestens ein Skateboard
  • ein Trambillet,
  • ein Saisonabo für die Badi
  • und so viele andere teure Dinge (zu viele Dinge, wie Sami fand)

Samis Grossvater war etwas zu stolz, um beim Sozialamt nach mehr Geld zu fragen. Also lag es an Sami, erfinderisch zu sein. Sami ass ihren letzten Löffel Teigwaren. Sie griff das Glas und schaute das Wasser an, das leicht im Glas bebte. Das erste Mal, als sie allein zugesehen hatte, wie ein Herz erlosch, war bei ihrem Nachbarn gewesen. Herr Borner, ein Banker mit einem Wolfsherz, wie ihr Grossvater erklärt hatte. Wolfsherzen leuchteten schwach und grünlich. Sie konnten nicht viel Liebe geben, waren einsam, aber sie waren sehr ehrlich. So ehrlich, dass sie selbst kleine Lügen nicht machten. Sami war auch ehrlich, meistens, aber eine kleine Notlüge, die keinem anderen Menschen schadete, fand sie nicht so schlimm. Wenn sie zum Beispiel dem Lehrer vorlog, weshalb sie ihre Hausaufgaben nicht machen konnte. Oder wenn sie Frau Sardi anlog, um ihren Grossvater keine Probleme zu machen.

Herr Borner war so ehrlich gewesen, dass er deshalb seinen Job und seine Freunde verloren hatte. …

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