Influencer – Kurzgeschichte

Pour Monsieur Wetli

Merci!

– par principe

»C’est moi, Le Wetli!«, rief er in die Runde und trat drei Mal wie ein wütender kleiner Junge gegen die Kiste unter dem Lavabo. Lukas und ich lachten laut auf. Wir erinnerten uns beide an unseren Geschichtsunterricht in der Sekundarschule – Absolutismus, Ludwig der Vierzehnte, »L’état, c’est moi! Der Staat bin ich!« – und an Leonardo di Caprio, wie er als Sonnenkönig im Film The Iron Mask eine der üppigen Treppen von Versailles hinunterstiefelt, mit Prachtsperrücke und stattlichem Gefolge.

»Dann machen Sie’s doch selbst!«, zeterte Le Wetli weiter und nahm uns alle bösen Blickes ins Visier. Lukas und ich lächelten zurück. Le Wetli echauffierte sich einmal mehr, weil die Bücherbestellung einmal mehr nicht funktioniert hatte und er fünf Ausgaben von Corinna Billes La fraise noire nicht aus der Kiste brachte.

Unser Dozent verzichtete auf das Führen von Listen, und zwar par principe. Dazu fand seine Literaturstunde Montagmorgen um acht Uhr statt. Das waren zwei Gründe für die drei ersten liegen gebliebene Exemplare. Bei den anderen zwei Ausgaben war es Amazon. Zwei Studienkolleginnen hatten sich spontan umentschieden, das Buch beim Versandmogul billiger bestellt und den Mumm nicht aufgebracht, es Le Wetli zu sagen.

»Fünf lausige Leute unter Ihnen, die dieses wunderbare Werk dieser femme extraordinaire unter dem Waschbecken vergammeln lassen!«, rief Le Wetli in die Runde und stemmte seine Hände in die Hüfte. Dieser Schalk tauchte in seinen Augen auf: Er zwinkerte uns zu, machte diese fahrige Geste mit der Hand und winkte wie die Queen of England aus ihrer Kutsche: »Et bon: Ich befähige Sie und erteile Ihnen die Macht! Par principe! – Wer macht’s?«

»Aber klar doch!«, rief Lukas in die Runde, lächelte Le Wetli an und sorgte noch am gleichen Tag für die Rückfuhr der überflüssigen Exemplare. Kein einziges Buch ist mehr in der Kiste liegen geblieben – Lukas nötigte uns per Unterschrift zum Einlösen unserer Bestellungen und händigte uns die Bücher persönlich aus. Die leere Kiste stand noch bis zum Ende unseres Studiums unter dem Lavabo.

La Fraise Noire, La Petite Fille et la Bête, Café des Voyageurs: Ein ganzes Semester lang nahmen wir Corinna Billes Kurzgeschichten in Wetlis Literaturunterricht durch. Wir sezierten jeden Satz, jede unterschwellige Botschaft, jede Metapher. – Was habe ich dieses Eintauchen in die Erzählungen geliebt! Eine unserer beiden heimlichen Amazon-Bestellerinnen ebenfalls: Wir lasen einander vor, lagen mit der Hauptfigur im Gras und lebten zwischen schwarzen Erdbeeren unsere sexuellen Fantasien aus. Wir weinten mit dem Vater, der seinen Sohn verloren hatte, und um den Vater, der mitgestorben war. Danach haben wir uns auf Amazon Venusschuh bestellt, auf Deutsch, und uns zum Kaffee getroffen, um uns über die Frau in Weiß zu unterhalten, die auf dem Wasser ging, und wir sind dem jungen Mann in das Dorf in den Bergen gefolgt und haben mit ihm in diesem Zimmer gehaust und das Unabwendbare mit ihm durchgemacht!

Lukas hat unsere Begeisterung nicht geteilt, sich aber trotzdem tapfer durch Le Wetlis Liste gelesen. Sogar durch Ubu hat er sich gelesen, und durch jedes weitere Buch, das er bestellt und ausgeteilt hat. Natürlich hat es auch die Studierenden gegeben, deren Exemplare unbenutzt ihre Bücherregale geziert haben. Die Bücher in Wetlis Kiste, sie haben etwas Durchhaltewillen gebraucht, und diese Leidenschaft, oder zumindest ein kleines Interesse für das Eintauchen in die Innenwelten anderer.

Ich lese heute noch, meine Amazon-Freundin und Lukas vermutlich auch. Aber sie tun es nicht mehr: Sie treten nicht mehr in Kisten, die Vorbilder unserer Zeiten. Sie tauchen nicht mehr ein, sondern drücken schnell ein paar Tasten. Ein paar träfe Promi-Shots für Boulevard-Websites, regelmässige Twitter- und Insta-Einträge, der gewiefte Umgang mit Shitstorms und ein stattliches Gefolge genügen ihnen.

Manche machen das sogar zu ihrem Beruf. Influencer! Das Promimodel gibt seine Meinung zum Abstimmungsergebnis über das neue Energiegesetz zum Besten, der Oscar-Gewinner tritt als UNESCO-Botschafter auf und die Starpolitikerin profiliert sich als Gourmet-Köchin für veganen Slow-Food. Unsere heutigen politischen Führer haben sie natürlich längst auch im Griff, die Meinungsmache per Multimedia. Sie winken wie die Queen aus der Kutsche, posieren wie Leonardo di Caprio auf prachtvollen Treppen, twittern, lassen sich liken und produzieren fleißig Shitstorms zu belanglosen Nichtigkeiten.

Und es kommt noch besser: Wir machen’s selber wie das Promimodel und der Insta-Star. Wir duschen morgens nur noch drei Minuten, um Energie zu sparen, stimmen aber gegen das Energiegesetz. Wir kochen die Linsen ohne Salz, weil‘s die vegane Kochpolitikerin uns empfiehlt, verpassen aber die Abstimmung zum Jagdgesetz und finden den Klimawandel natürlich auch so beunruhigend wie alle, machen dann aber trotzdem nichts. Aber klar doch!

– Es gibt sie auch heute noch, die Influencer, die wirklich eintauchen: Leonardo di Caprio etwa und Greta von Thunberg natürlich. Und wir wissen es ja auch eigentlich auch noch aus unserem Geschichtsunterricht: Le Wetli lag so daneben wie Ludwig der Vierzehnte: Der Staat sind nicht sie, sondern wir alle selbst. Es ist wieder Zeit, in die Kiste zu treten. Par Principe! – Wer macht’s?