Ausbruch

‚Manchmal macht es mich trotzdem traurig... dass Andy weg ist. Ich muss mich daran erinnern, dass einige Vögel nicht dazu bestimmt sind, eingesperrt zu werden. Ihre Federn sind einfach zu hell. Und wenn sie wegfliegen, FREUT sich dieser Teil in dir, der weiß, dass es eine Sünde war, sie einzusperren.’

Ausbruch

Es ist soweit. Seinen Ausbruch hat er genau geplant. Er hat sich einen treuen Verbündeten gesucht, ein Ablenkungsmanöver gestartet und eine falsche Fährte gelegt, um genau in dem Moment zu fliehen, in dem niemand mehr damit rechnet. Wie Andy in Die Verurteilten.

Seinen allerersten Fluchtversuch hatte er als Zweijähriger gestartet, als er die Terrassentür zum ersten Mal alleine hatte öffnen können. Er hatte seinen roten Kinderstuhl vor die Tür gestellt, war darauf gestanden, und mit beiden Händchen und aller Kraft hatte er den Griff nach oben gedrückt. Dann war er hinausgesprungen, in die Stiefel seines Bruders gestiegen und hatte sein Micro-Trotti gepackt. Weiter als bis zum Kindergarten um die Ecke hatte er es nicht geschafft.

Als sie umgezogen waren, war der Türgriff komplizierter gewesen, das Micro verschwunden und Bruders Gummistiefel hatten nicht mehr bereit vor der Türe gelegen. Trotzdem hatte ihn der Mann von der Dorfgarage vis-à-vis regelmäßig wieder zu Hause abgeliefert, meistens in den rosa Turnschuhen des Nachbarmädchens, die immer auf dem Teppich vor ihrer Haustür gelegen hatten.
Im Kindergarten hatte er das erste Mal versucht, alleine den Bus zu nehmen. An der Endstation war er schon erwartet worden. In der ersten Klasse hatte er es immerhin bis zum Flughafen geschafft, und an den Bodensee. Und dann hatte er lesen gelernt. Und für eine Weile hatte er tatsächlich damit aufgehört. Stattdessen war er mit Ronya Räubertochter durch die Wälder gestreift und mit Emil und dem kleinen Nick durch die Straßen gezogen. Mit Yakari war er auf Kleiner Donner durch die Prärie geritten und über den Wolken auf Fuchur mit Bastian Balthasar Bux. Er war Alice ins Wunderland gefolgt und Peter Pan nach Nimmerland, und für eine gute Weile waren ihm solche Kopffluchten genug gewesen.
Aber nach und nach hatte er die Lust an diesen Geschichten verloren. Weil er nämlich etwas zu verstehen begonnen hatte. Endgültig begriffen hatte er es, als er mit seinem Wächter den siebten Teil von Star Wars im Kino geschaut hatte. Mitten im Film war er aufgestanden und wütend aus dem Kino gelaufen. Ein Kind, das alleine in einer Wüste aufwächst, Schrott sammelt und dann mit einem Raumschiff einfach irgendwohin wegfliegt, das gibt es in Echt einfach nicht! Nirgendwo dürfen wir alleine hin! In den Wald nicht, auf die Straße nicht, nicht auf den Fußballplatz am Rand der Stadt und schon gar nicht mitten in die Stadt. Weil es im Wald böse Fremde gibt, weil die Autos einen auf der Straße überfahren und weil es auf dem Fußballplatz noch mehr böse Fremde gibt und in der Stadt die Trams über einen fahren und die bösen Fremden auch dort sind. Überallhin werden wir begleitet. Wir werden in die Schule gefahren, ins Fußball, zur Klavierstunde, ins Zusatzenglisch, zum nächsten Einkaufsladen – Ihr Wächter! Wisst Ihr eigentlich noch, dass Ihr euch früher im ganzen Dorf, im Wald, im Dorfladen, auf dem Friedhof, überallhin! alleine frei bewegen konntet! Dass ihr euch mehr als drei Kilometer von Zuhause entfernen durftet – und das sogar abends!, ohne dass Suchaktionen nach euch gestartet wurden! Und seid ihr euch eigentlich bewusst, dass ihr selbst heute auch noch dauernd irgendwo hinrennt, während ihr uns zu Hause einschließt?
Und wenn wir euch dann fragen, warum wir nicht so frei sein dürfen wie ihr damals, dann singt ihr uns diese Lieder vor! Wer hat Angst vorm schwarzen Mann… Oder ihr verliert euch in diesen Erklärungen!
«Weißt du, nicht alle Menschen sind heutzutage gute Leute. Sie tragen eine Maske, und dahinter sind sie etwas Anderes», hatte seine Wächterin ihm einmal erzählt, als er sie eines Abends gefragt hatte, ob er noch schnell alleine auf den Sportplatz gehen dürfe. Er war sich damals nicht sicher gewesen, was sie mit den Masken gemeint hatte. Heute ist er sich nicht sicher, ob die Wächter sich überhaupt bewusst sind, was sie anstellen, wenn sie Geschichten von fliegenden, in Wäldern und auf Straßen herumstreunenden Kindern vorlesen und gleichzeitig ihre eigenen Kinder mit dieser unsichtbaren Leine an ihr Zuhause binden.

Nach Star Wars Sieben hatte er sich nur noch auf Gamen, Snapchat und Whatsapp konzentriert. Damit konnte man sich zwar wieder nur an einen Ort simsen, den es in Echt nicht gab. Aber wenigstens konnte man mit den anderen Insassen chatten und Dampf ablassen. Und sich vorstellen, einer seiner Gamegegner sei sein Wächter und auf ihn einballern… Und fast schon hatte er sie ganz verdrängt, diese unsichtbare Leine aus Überfürsorglichkeit seiner Wächter. Aber dann, vor einer Woche war etwas passiert.
Seine Wächter hatten sich wieder einmal irgendwohin in den Ausgang gemacht und ihre siebzehnjährige Ersatzwächterin angeheuert. Und die war wie immer am Dauertwittern gewesen mit ihrer BF. Er selbst hatte keine Lust gehabt auf Gamen oder Chatten, aus keinem besonderen Grund. Aus lauter Langeweile hatte er sogar eine App heruntergeladen, mit der man vom Handy aus den Fernseher bedienen konnte. Die App hatte eins-A funktioniert. Sogar von seinem Bett aus. Er hatte sich kaputt gelacht ab der Vorstellung, dass er durch die Wand seinen Wächtern dreinzappen konnte. Dann war er wieder ins Wohnzimmer gegangen und zufällig hatte er sich in diesen Film geschalten. Über zwei indische Jungs, die ohne Eltern und ohne eigenes Zuhause in dieser gigantischen indischen Stadt voller Abfall und Blechhütten lebten.

Er ist nicht blöd oder naiv oder so. Er weiß, dass diese Jungs sich ihr Essen stehlen und selbst verdienen müssen. Dass sie ohne Familie um ihr Überleben kämpfen müssen und vielleicht schon gar nicht am Leben gewesen sind zu dem Zeitpunkt, als er den Film geschaut hat. Er ist sich total bewusst, dass sein Leben superbequem ist – dass er ein sicheres Dach über dem Kopf hat, zum Geburtstag immer alles bekommt und er höchstens um mehr Taschengeld und das neue WOW-Game fighten muss.
Seine Wächter halten ihn gut. Sie sind sogar supernett und haben ihn lieb. Aber so viel sie ihm auch geben – dieses eine, das diese indischen Jungs aus dem Ghetto in Fülle haben, oder hatten, das nehmen sie ihm weg. Und deshalb ist es heute soweit. Und wenn er wieder nur bis an den Flughafen kommt.

Der Verbündete: Sein Freund Patrick. Ausnahmsweise darf er heute bei ihm übernachten, weil seine Wächter an einem Konzert sind und die Ersatzwächterin donnerstags immer bei einem anderen Insassen twittert.

Das Ablenkungsmanöver: Seine Wächter führen immer zwei Sicherheitschecks durch, wenn sie im Ausgang sind. Das erste Mal rufen sie heute in der Konzertpause an, das zweite Mal werden sie sich nach dem Konzert melden. Nach dem ersten Anruf erzählt er Patricks Wächtern, dass er vergessen habe, seinen Hamster zu füttern. Und Patrick überzeugt seine Wächter, dass beide schnell alleine rüber dürfen, obwohl es schon dämmert draußen und der Fußballplatz zwischen den beiden Häusern liegt.
Zu Hause füttern sie also den Hamster und packen seine Fluchtsachen fertig ein: Rucksack, Sparbüchse, eine frische Unterhose, die Regenjacke, Proviant für drei Tage, das Handy natürlich nicht.

Die falsche Fährte: Patrick geht noch vor dem zweiten Sicherheitscheck alleine zu seinen Wächtern zurück, während er sich Zeit lässt und noch seinen Rucksack im Gebüsch unter dem Vordach von Patricks Haus versteckt. Patrick erzählt zu Hause, dass er schon alleine vorgegangen sei, um seine eigenen Wächter nicht zu beunruhigen, weil sie beim Hamster etwas die Zeit vergessen hätten – und dass sie sich keine Sorgen machen brauchten und sein Freund sicherlich auch gleich nachkäme. Natürlich erzählen Patricks Wächter beim zweiten Anruf die Geschichte vom hungrigen Hamster und erwähnen ebenfalls, dass Patrick schon zu Hause sei, er aber nicht. Dass es aber sicher nicht mehr lange dauere, bis ihr Sohn wieder daheim sei. Worauf seine Wächter, natürlich misstrauisch geworden, eine Viertelstunde später ein drittes Mal anrufen, worauf Patricks Wächter ihnen erzählen können, dass auch er gut heimgekehrt sei.

Die Flucht: Alles ist ruhig in Patricks Zuhause. Die Wächter schlafen, Patrick auch. Sein Freund wollte ihn eigentlich noch an die Tür begleiten, aber er hat so lange gewartet, bis Patrick auch eingeschlafen ist.
Patrick ist zwar sein bester Freund, aber er versteht ihn nicht. »Weißt du, für mich ist dieses Wegrennen von Zuhause nicht so wichtig«, hat Patrick einmal zu ihm gesagt, »wir wohnen in einem großen Haus, da kann man sich gut verstecken«. Aber es ist nicht das Wegrennen, und zu eng ist es ihm auch nicht in seiner Wohnung.

Lautlos öffnet er die Tür von Patricks Haus, nur einen Spalt breit, guckt hinaus und schaut zum Wald – dorthin, wo der schwarze Mann wohnt. Er schaut zum Fußballplatz, wo der böse Fremde wartet und auf die Straße, wo ihn das Auto überfahren wird. Er sieht schon die Schlagzeile zu seinem Verschwinden vor sich, als er sich hinausschleicht und lautlos die Tür hinter sich schließt. Auch um die Tränen seiner Wächter weiß er, um ihre Angst um ihn, während er seinen Rucksack aus dem Gebüsch holt. Aber sein erstes Mal kommt ihm wieder in den Sinn. Wie er als Zweijähriger auf dem roten Stühlchen gestanden hat und seine Händchen die Terrassentür geöffnet haben, und zwar nicht um wegzurennen. Er schultert seinen Rucksack und atmet einmal tief durch, und leise flieht er. Nach Hause, in ein Land ohne Masken.