Aplomb

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Friedrich Schiller

Aplomb

Sie zupfte an ihrem schwarzen Ledergürtel und betrat den Saal. Für hundertdreißig Franken hatte sie sich ein Flugticket gekauft, Paris überflogen und den Ärmelkanal, und sich ein Zimmer am Argyle Square gemietet. Das Zugticket nach Zürich kostete mehr. Der Gürtel auch. Das war nicht normal. Aber bon, die Zeiten waren aus den Fugen. Also profitierte auch sie davon, und beflog die Shakespearevorstellungen dieser Welt.
Für heute hatte sie ein dunkelblaues Etuikleid und schwarze Kitten Heels gewählt, passend zum hiesigen Geschmack. Bereits am Umtauschschalter hatte sie für ihre Kostümwahl den passenden Blick geerntet. Aber dann hatte der Tickettauscher – das Gesicht mit Rockabilly-Frisur und Vollbart maskiert – sie gefragt, aus welchem Land sie komme. Sie war zunächst erfreut gewesen, dass sie ihm mitteilen konnte, sie sei extra aus der Schweiz angereist. Aber er hatte mit einer dieser Gesten reagiert. Und mit diesem Niesen als Zugabe.
»Bless you!«, hatte sie zu ihm gesagt.
Er hatte gelacht wie ein Kookaburra und versichert, er sei nicht krank. Und sie sei heute bei weitem nicht die von fernsten Angereiste. Sie zupfte an ihrem Gürtel und setzte sich auf ihren Platz, einen braunen Manchestersessel mit Lederlehne. Sie studierte den lamellenartigen, schwarzen Plastikvorhang und die Siebzigerjahre-Beleuchtung des Theatersaals, die an Legosteine erinnerte. Jetzt begann es nach Dior und Paco Rabanne zu riechen und die Parkettplätze füllten sich geschwind. In den Logen ließ man sich wie üblich etwas mehr Zeit.

Sie drehte sich um und suchte den Saal nach 10 Pfund-Gewinnern ab. Die Glücklichen auszumachen war nicht möglich, das Publikum war außerordentlich heterogen heute. Es gab zwar die klassischen britischen Silver Birds mit roter Fliege, Krückstock und beginnender Demenz, die jungen Künstler im Manchester-Sakko und die jungen Künstlerinnen mit ihren fraglichen Farb- und Formkombinationen – und die Yuppies in Leder und teuren Parfums. Aber es gab auch auffällig viele Undefinierbare heute.
Sie schaute zu ihrer Linken. Die vier Stühle waren noch leer. Sie stellte sich vor, wen sie gerne neben sich sitzen hätte. »Ruhe zum Rest, ich will meine Gedanken hören!«, würde Hamlet wohl sagen. Und sie würde ihn witzig finden, aber auch anstrengend. Hamlet gefiel sich zu sehr darin, Hamster im Rad zu sein. Ein brutaler Hamster dazu. Sie lächelte. Zu gerne hätte sie Shakespeare gefragt, wie er auf diesen Charakter gekommen war. Und ob es ihn wirklich störte, wenn eine Regisseurin Hamlets Sein-oder-Nichtsein-Monolog gleich zu Beginn des Stücks platzieren würde. Und ob er sich auch den Kopf zerbrochen hatte, ob die Aufführung oder der Text das eigentliche Stück darstelle?
»Nay! Ihr streitet euch über Huhn und Ei?«, würde er wohl geantwortet haben, »wo es zu meiner Zeit Hamlet-Stücke von verschiedenen Autoren gab und diverse Versionen allein vor der meinigen? Und die Frage war zu unserer Zeit doch nicht, was eigentlich oder ursprünglich war, sondern –« Sie brach ihr Gedankengespräch mit Shakespeare ab. Sie hatte sie satt, diese fiktiven Dialoge.       

Gerne würde sie mehr reale Gespräche führen, aber sie konnte nicht. Sie hatte wenig gute Vorbilder gehabt. Ihre Eltern, zwei einfache Menschen vom Dorf, hatten kaum gesprochen, weder mit ihrem Kind noch mit anderen. Sie konnte sich gut an das erste Elterngespräch erinnern. Eine One-Man-Show ihres Primarlehrers. Ihr Vater hatte auf die Fragen des Lehrers gar nichts geantwortet, ihre Mutter einsilbig. Ja. nein. Oder bestenfalls zweisilbig. Vielleicht.
Eine dünne, nach Vanille riechende Frau und ihr graumelierter Begleiter schlängelten sich an ihrem Sitz vorbei. Eine Stimme kündigte an, dass die Vorstellung in Kürze beginnen würde. Sie schaute nach links. Die vier Sitze waren noch unbesetzt. Die leeren Plätze im Flugzeug kamen ihr in den Sinn, und das nicht geführte Gespräch.

Sie hatte in der sechsten Reihe am Gang gesessen. Neben ihr war eine orthodoxe Jüdin zu sitzen gekommen, deren Haupt sie etwas unflätig angestarrt hatte. Man hatte ihre Kopfhaut nicht gesehen. Zu gerne hätte sie die Frau gefragt, was es ihr bedeutete, eine Perücke zu tragen, aber sie hatte sich nicht getraut. Nicht weil sie Angst vor Abweisung hatte. Da gab es an den Menschen etwas, das sie irritierte. Auf der Bühne passten Kostümierung, Gesten und Worte zueinander. Aber die Menschen im realen Leben, sie sagten mit ihren Worten etwas, während ihre Gesichtszüge und die Melodien, mit welchen sie das Gesagte begleiteten, eine ganz andere Sprache sprachen. Und wenn sie sich dann auch noch verkleideten… wie auf der Zugfahrt von Luton nach St. Pancras: Zwei junge Frauen waren in St. Albany zugestiegen. Die eine hatte hüftlanges kastanienbraunes Haar gehabt, die andere hüftlanges blondes. Beide waren furchtbar bleich geschminkt gewesen, hatten blassrosaroten Lippenstift aufgetragen und das gleiche schwarze T-Shirt angehabt, mit wüsten Skeletten und gotischen Schriftzügen darauf. Ihren amerikanischen Akzent hatten sie in einer derart tiefen Stimmlage gesprochen, dass ihre Worte wie das Quaken von Kröten geklungen hatten. Sie hätte die Mädchen gerne gefragt hätte, ob –
»Hey, you again!«, unterbrach eine Frau ihre Gedanken.
Zwei Reihen weiter vorne schnatterte sie mit einer Frau, die gleich aussah wie sie – Kurzhaarschnitt, dicke Oberschenkel in unvorteilhaften Jeans, kleinlich geschnittene Karo-Bluse –  und ebenso aufgeregt schnatterte. Sie erlaubte sich, ein wenig mitzulauschen.
Die beiden kannten einander nicht näher, waren aber zum wiederholten Mal des Hauptdarstellers wegen in der Vorstellung. Sie versuchte sich an den Namen des Schauspielers zu erinnern und schüttelte den Kopf.
Was brachte es, sich immer den gleichen Hamlet anzusehen? – Die Hamlets über die Jahre hinweg zu vergleichen, das lohnte sich. Es gab den tatenscheuen Dänenprinzen der Romantik, den Hamlet Laurence Oliviers, Kenneth Bra-naghs religiös verwirrten Kriegerprinzen und Ethan Hawkes in Hochhäusern und Langeweile umherschlurfenden Yuppie-Höfling. Aber bon, darum ging es den beiden Frauen wohl nicht.

Sie zupfte an ihrem Ledergurt und schaute zu den Legostein-Lampen. Sie war gespannt auf die Version von heute Abend. Den überzeugendsten Bühnen-Hamlet hatte sie bisher unter Andrea Breth in Wien gesehen. Wollte man den Kritiken zur heutigen Inszenierung Glauben schenken, waren eine schlechte Dialogkürzung der Regisseurin und ein überpompöses Bühnenbild zu erwarten, dazu eine furiose Kostümschau an Gefühlen und gar ein Hamlet, der nicht verrückt sei.
In einer der Kritiken hatte sie ein lange nicht gelesenes Wort angetroffen: Aplomb. Obwohl ihm sein Ruf vorausgeeilt sei, meistere gegenwärtiger Hamlet-Darsteller seine Rolle mit Aplomb. Theodor Herzls Tagebucheintrag kam ihr in den Sinn: Ich habe noch nicht den Aplomb, der mir wachsen wird – endlich, die vier Stühle füllten sich. Sie traute ihren Augen nicht.

Vier junge Asiatinnen mit glitzernden Minijupes und roten Wangen setzten sich zeitgleich. Das Mädchen auf dem entferntesten Sitz trug eine leuchtend blaue Jacke mit einer Kapuze, die sie tief über ihre Stirn gezogen hatte. Sie starrte das Mädchen ungläubig an. Nicht der Kapuzenjacke wegen. Heute war man einiges gewöhnt im Theater, und im Barbican gab es keinen Dresscode. Aber an die Kapuze genäht waren zwei große, pelzige Mausohren und im Gesicht trug das Mädchen einen knallblauen Lippenstift, und dazu ein Dutzend Piercings, an Lippen, Augenbrauen, Nase, in der Backe, überall.
»Gerade noch geschafft«, nuschelte es vom Sessel direkt neben ihr. Sie drehte vorsichtig ihren Kopf. Ein unbemaltes Gesicht mit zwei vorstehenden Zähnen wie bei einem Häschen lächelte ihr entgegen.
Sie nickte freundlich zurück, fand aber nichts zu sagen. Da war wieder etwas, das sie irritierte: Die Hasenzähne waren überhaupt nicht vorstehend. Das Mädchen spannte nur die Lippen derart krampfhaft um seine Schaufeln. Und da gab es noch etwas, an der Körperhaltung des Mädchens: Es saß seltsam klobig da, obwohl es äußerst zart gebaut war.
»Ich bin so froh! Der Flug von Seoul hatte viel Verspätung«, nuschelte das Häschen unbeirrt weiter, »aber wir haben es trotzdem geschafft!«
»Sie sind von Südkorea hierhergekommen? Das müssen mehr als 18 Stunden Flugzeit sein, nicht?«, fragte sie höflich. Das Häschen nickte stolz.
»Und das um Hamlet zu sehen? Respekt!«
»Nein – Cumberbitch!«, nieste es. Genau wie der Rockabilly-Tickettauscher im Entree.
»Gesundheit!«, antwortete sie. Das Mädchen kicherte leise und nuschelte zur Antwort, es habe nicht geniest. »Wir Fans, vor allem die weiblichen, nennen uns so, in Anlehnung an seinen Namen«, erklärte es bedeutungsvoll und zeigte auf die Bühne.
Eine Stimme kündigte den Beginn an und bat das Publikum, alle Smartphones auszustellen und die Vorstellung kameralos zu geniessen. »Und weshalb sind Sie hier?«, fragte das Mädchen leise.
»Shakesbitch«, nieste sie zur Antwort. »Sie sind lustig«, sagte das Mädchen und lachte frei heraus.
Die Lego-Lichter gingen aus und der Vorhang zackig auf. Das Stück war gut. Das Bühnenbild war üppig, aber nicht überpompös, die Dialogkürzungen erträglich, und Hamlet, ah bon. Er war nicht schön. Er hatte schräg stehende Augen, hohe Wangenknochen, eine wulstige Unterlippe und dazu eine zu feminin geschwungene Oberlippe. Seine Nase sah von der einen Seite knollig aus, von der anderen Seite spitz. Aber er hatte diesen stechenden grünen Blick, und diese tiefe tragende Stimme, und wirklich, er spielte seine Rolle mit Aplomb.
Er war mal witzig, mal grausam, dann harsch und einen Moment später wieder sensibel, und wild und hysterisch und seelenruhig zugleich. Und er trug diese Verkleidungen. Mal sah er aus wie ein Student, dann wie ein Soldat, im nächsten Aufzug trug er einen dekadenten Samtmantel, auf dessen Rücken das Wort King gepinselt war, und zum Schluss hatte er eine schlichte schwarze Jeansjacke an. Und tatsächlich, sie glaubte es ihm in jeder Verkleidung und Gefühlswallung: Nicht der Hamlet dieser Tage war verrückt oder grausamer Hamster im Rad, sondern alle anderen.

Einmal löste sie ihren Blick von der Bühne, um ihre Sitznachbarin aus Seoul zu beobachten. Die junge Frau folgte jeder Geste, jedem Wort von Hamlets Spiel. Die Hasenzähne waren verschwunden und ihre Körperhaltung mit dem feinen Körperbau vereint.
Nach dem Ende der Vorstellung zupfte sie ihren Gürtel zurecht, verabschiedete sich freundlich von ihrer Sitznachbarin und bestellte eine Cab zu ihrem Hotel am Argyle Square. Im Taxi stellte sie sich vor, wer in der nächsten Vorstellung neben ihr zu sitzen kommen würde. Oder auf dem nächsten Flug. Sie freute sich auf das nächste Gespräch unter Hamstern.