Hundert Mauern

Für mein Brüderchen

 

Diese wüste Fabrik. Fleischfarben, bleich, wie ein fades Pouletfilet aus dem Ofen. Das ganze Tal nahm sie für sich ein, verstreute ihren säuerlichen Geruch in alle Winde. Es gab wohl keine hässlichere Warteaussicht in der Schweiz als die Backsteine dieser Fabrik. Außer Bern Europaplatz vielleicht. Und in der Unterführung zum Perron hatte es wieder nach Urin gerochen. Er gähnte. Er war wieder alleine auf dem Gleis.
Meistens war er alleine auf dem Gleis. Nur zu Stoßzeiten waren sie zu viert. Drei warteten auf den Zug nach Zürich auf Gleis zwei, der vierte auf die S-Bahn nach Winterthur auf Gleis drei. Er warf kurz einen Blick über die Schulter und starrte wieder die Fabrikwand an.
Das Warten hier, dieses säuerliche pouletgelbe Warten, stank ihm. Vor allem bei Regen und mit Bouillon-Geruch. Im Moment schien zwar gerade die Sonne, und es roch nach Nespresso, und auf der Kieswüste vor dem Backsteingebäude am Gleis blühten Stauden, violett oder blau, und Bienen flirrten zwischen ihnen umher. Der Studienaufenthalt in Südfrankreich kam ihm in den Sinn. Die Velofahrten an den Strand, die selbst gemachte Lavendeleiscrème und die Noisette dazu. Die französische Medizinstudentin, die ihn Poccolo genannt hatte. Die er nie wieder gesehen hatte nach jener Nacht. Er packte seine neuen Bose-Kopfhörer – waren sie violett oder blau? – aus der Tasche. Der Zug fuhr ein.

* * *

Diese Backsteine. Es regnete und roch nach Spargelcrème-Suppe heute, und er war wieder alleine auf dem Perron. Sie nervten ihn. Er gehörte eigentlich nicht zu den Leuten, die nicht über Plattenrillen gehen konnten und ihren Fuß immer schön mitten auf die Gehplatte setzen mussten. Aber diese Linien, vom Mörtel zwischen den filetfarbenen Backsteinen, sie zwangen seine Augen, ihnen zu folgen. Im Zickzack nach links, dann einen Sprung nach oben, wieder im Zickzack rechts, dann wieder einen Sprung nach oben, und wieder im Zickzack links, Sprung nach oben, Zickzack rechts, zwischen grau angelaufenen Fenstern hindurch, Zickzack, Sprung, Zickzack, bis zu den obersten Ziegeln unter dem Dach.
Er streifte sich seine neuen Bose-Kopfhörer über, deren Farbe er nicht genau beschreiben konnte, stellte die Musik an und nahm sich vor, nie wieder Fertigspargelsuppe zu essen, als der Zug einfuhr.

* * *

Es regnete, er atmete diesen sauren Geruch ein, und wieder schlugen seine Augen Haken entlang der Fabrikwand. Er nervte sich. Dieser wüste Ort ließ ihn die gleichen Dinge denken wie gestern. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Was für Wetter wir heute haben. Nach welcher chemischen Suppe das Globalunternehmen stinkt. Wie viele Leute auf dem Perron des wüstesten Bahnhofs der Schweiz stehen werden, wann endlich der Zug kommt. Mit welchen Umsatzeinbrüchen wir heute rechnen müssen, und mit wie vielen Wutausbrüchen des Chefs. Was für eine Herbstjacke er sich kommendes Wochenende kaufen würde, wann er endlich seine Wohnzimmerlampe montieren würde, was er morgen Abend zum Essen kochen wollte, wo wohl der nächste Terroranschlag stattfinden würde, ob Trump es tatsächlich schaffen würde und ob die Amis wirklich so blöd waren. Wie blöd er doch war! 60’000 Gedanken dachte er an einem einzigen Tag wie heute. Und mehr als 55’000 davon waren die gleichen wie gestern!
Angewidert drehte er der Fabrik den Rücken zu und schaute nun an eine grüne Wand aus verwildertem Gestrüpp, mittelgroßen Bäumen und ein paar Stauden, deren Namen er nicht kannte. Er gähnte. Mit dieser Aussicht, und mit dem Rauschen von Wasser dahinter, konnte er genau so wenig anfangen. Er drehte sich wieder zur Fabrikmauer zurück und montierte seine blauvioletten Kopfhörer. Der Zug fuhr ein.

* * *

Roch es wirklich nach Ketchup heute? Er atmete den Uringestank der Unterführung aus und drehte der Backsteinmauer trotzig den Rücken zu.
Achtung Stromschlag, las er auf einem gelben Warnschild am Bahnmast vor dem grünen Gebüsch. Aus dem Wald dahinter rauschte es lauter als sonst. Das Flüsschen führte Hochwasser. Wie wohl der Name des Flüsschens lautete, dachte er spontan bei sich.
Das Sihltal kam ihm in den Sinn, und das Thurtal, und er konnte sich den Namen vorstellen. Am Waldrand ein paar Meter weiter rechts stand eine Pflanze mit hohen Stängeln, die pfeilspitzenförmige Blüten führte. Waren sie blau oder violett? Und wieso konnte er diese beiden Farben nicht auseinanderhalten? Er packte seine gleichfarbigen Kopfhörer aus und zog sie über, wie jedes Mal, wenn der Zug einfuhr.

* * *

Es regnete und die Fabrik und die Unterführung stanken, aber aus dem Wald roch es gut. Feucht und erdig. Er stand im Neunziggradwinkel zum Perron, mit Blick auf die Geleise, die nach Zürich führten, und lächelte. Rechts hatte er die Fleischfassade der Fabrik im Auge, links die Wand aus Grünzeug, dessen Namen er nicht kannte – er stand zwischen zwei Mauern. Das erinnerte ihn an eine Geschichte, die seine Schwester und er einander als Kinder erzählt hatten.

Eigentlich war besagte Geschichte ein Witz. Aber er und seine Schwester hatten ihn nie lustig gefunden und ihn deshalb in ein Märchen verwandelt: Es waren einmal ein Brüderchen und ein Schwesterchen. Sie wohnten in einem großen Schloss (im Witz eigentlich ein Irrenhaus), das von hundert Mauern umgeben war.
Im Schloss gab es alles, was ein Kind sich nur wünschen konnte: ein großes Puppenhaus mit Dutzenden von Puppen, eine Autorennbahn und eine Eisenbahn, Lego Minecraft, einen Whirlpool für Barbie, My little Ponies in jeder erdenklichen Farbe, eine X-Box, eine Nintendo Switch, mehrere Tablets undsoweiter. Aber jeden Tag schauten die Geschwister aus dem Fenster statt zu spielen, und stellten sich vor, was wohl hinter den vielen Mauern sei. Bis sie eines Tages beschlossen, diese Mauern zu bezwingen und gemeinsam auszubrechen.
Seine Schwester und er hatten sich immer 99 verschiedene Arten von Mauern ausgedacht, über die Brüderchen und Schwesterchen klettern mussten: Eine Mauer war aus spitzen Holzpfählen gewesen, eine andere wie ein großes Metallgitter, die nächste sah genauso aus wie die chinesische Mauer. Es gab eine, die von einem gefährlichen Drachen bewacht wurde und eine aus fleischfressenden Pflanzen, bei der man zuerst hundert Käfer sammeln musste, um die gefräßigen Blüten beim Hinüberklettern zu besänftigen. Undsoweiter.
»Liebes Schwesterchen, schaffst du es über diese Mauer oder sollen wir wieder umkehren?«, fragte das Brüderchen, als sie gemeinsam über die erste Mauer stiegen. Es war nämlich etwas stärker als sein Schwesterchen.
»Ich schaffe es über diese Mauer, liebes Brüderchen«, antwortete das Schwesterchen.
»Liebes Schwesterchen, schaffst du es über diese Mauer oder sollen wir wieder umkehren?«, fragte das Brüderchen auch nach der zweiten Mauer. Und nach jeder Mauer stellte das Brüderchen die gleiche Frage. Auch nach der fünfzigsten und einundfünfzigsten und zweiundfünfzigsten. Und jedes Mal erhielt es die gleiche Antwort.
Nach der neunundneunzigsten Mauer – sie war bestimmt pouletfiletfarben und aus Backsteinen – fragte das Brüderchen sein Schwesterchen: »Liebes Schwesterchen, schaffst du es über diese Mauer oder sollen wir wieder umkehren?«
»Über diese Mauer schaffe ich es nicht mehr, liebes Brüderchen«, antwortete ihm das Schwesterchen.
»Also gut, kehren wir wieder um!«, sagte das Brüderchen und die beiden machten sich auf den Rückweg. Und während andere jeweils über diesen Witz gelacht hatten, hatten er und seine Schwester einander nur angeschaut.

Sein Blick wanderte hin und her zwischen der Fabrikmauer rechts und der Wand aus grünen Pflanzen links. Er nahm sein Handy hervor und rief seine Kontakte auf, zögerte jedoch. Was sollte er sagen nach all den vielen gleichen Gedanken, die er an Umsatzeinbrüche, Herbstjacken und Nespressogerüche verschwendet hatte, und nach so wenigen an seine Schwester? Ein Geräusch über seinem Kopf, eine Art Rauschen, riss ihn aus seinem Zögern.
Ein Graureiher zog einen Kreis über ihm auf dem Perron, und dann noch einen, und flog hinüber zur grünen Wand und –  sah er richtig? – landete weit oben auf dem Ast einer Tanne. Der Baum schwankte hin und her ob dem Gewicht des Vogels, aber einen Moment später schon stand die Tanne wieder still und keine Spur von diesem Tier war mehr zu sehen oder zu hören.
»Ich stehe zwischen zwei Mauern, liebes Schwesterchen, und wo stehst du?«, sagte er zur Begrüßung. Die Schwester lachte laut: »Im Hochmoor vor einer fleischfressenden Pflanze!«
»Du hast das Mandat bekommen?«, sagte er, »gratuliere dir!«
»Geht es dir gut?«, antwortete die Schwester.
»Wieso fragst du?«, sagte er.
»Na, wegen der Mauern«, antwortete sie. Er lachte und erzählte ihr von der filetfarbenen Backsteinmauer am wüstesten Bahnhof der Schweiz, von seinen Sorgen im Geschäft, von der Landung des Graureihers und von den Erinnerungen an ihr Märchen von den hundert Mauern.
»Sag, hast du es eigentlich je über die letzte Mauer geschafft?«, fragte er zum Schluss und betrachtete die Wand aus Bäumen und Stauden, deren Namen er nicht kannte.
»Nicht hinüber, Brüderchen!«, antwortete seine Schwester lachend, »durch die letzten Mauer musst du hindurch.« Sein Blick schweifte ab zur Backsteinmauer. Die fleischfressenden Pflanzen kamen ihm in den Sinn.
»Aus was für einem Material ist diese letzte Mauer eigentlich?«, fragte er leise, aber auch er kannte die Antwort schon.
Er verabschiedete sich am Telefon, versprach sich, den einen oder anderen Tag wieder öfters einen von sechzigtausend Gedanken an seine Schwester zu verschwenden, und nahm seine violetten Bose-Kopfhörer aus der Tasche. Der Zug würde bald einfahren.

Das Rauschen der Kempt stieg ihm in die Ohren, als der Zug in Sichtweite kam. Er schaute die Backsteine an, warf kurz einen Blick über seine Schultern und drehte dem Gebüsch den Rücken zu.
Es stank nicht nach Urin, als der den ersten Schritt in die Unterführung tat. Aber vielleicht würde der nächste Schritt stinken. Und es könnte Dornen darin haben, Hindernisse hart wie Metall und bedrohlich wie Drachen. Einige Mauersteine würden er bei ihrem Namen nennen müssen, und vielleicht sammelten sie besser noch ein paar Käfer. Aber dieses Mal würden sie es schaffen – hindurch, Brüderchen und Schwesterchen, hindurch!